Ein Dorf mit Vergangenheit ...

Lieder und Texte aus Hellinghausen

 

Des alten Weidmanns Heimgang


Vorm Försterhause im Tannenwald
der alte Weidmann liegt starr und kalt.
Im Jägerkleid, das Haar so weiß,
auf der Brust ein frisches Tannenreis.
Rings um den Schrein, so weiß und so rot,
viele Blumen beklagen des Hegers Tod.
Die Träne rinnt. - Nun deckt ihn zu!
Du alter Weidmann, hab gute Ruh!
Des Priesters frommes Gebet verhallt,
von Friedhardtskirchen die Glocke schallt.
Hoch auf dem Wagen im Tannengrün,
will der Weg zur Gruft hinziehn.
Den Weg, der sechsundfünfzig Jahr
sein Weg zur Pflicht zum Walde hin war,
 ja sechsundfünfzig Jahr, welch lange Zeit!
Es stehen die Bäume im Feierkleid.

 



Sein Heimgang soll sein unter Lenzespracht,
Tautränlein still um ihn weint und klagt.
Die Vöglein, die ihm so traut, so wert,
sie geben dem Toten das letzte Konzert.
Die Nachtigall singt klagend zum letzten Mal.
Die Drossel flötet den Trauerchoral.
Das Reh steht schweigend am stillen Hang,
vom Walde hört man des Kuckucks Klang.
Hoch über dem Forst des Habichts Flug,
da drunten des Försters Leichenzug.
Dort, wo am Rain das Kreuzlein steht,
dort, wo zum Walde der Weg hingeht,
hat man ihn gebettet zur letzten Ruh;
Ich gab auch drei Schaufeln Erde dazu.

Zum Tode von Fritz Poppenburg  am 7. Juni 1930   von Gerhard Hoischen

Friedhardtskirchener  Schützenlied


1. Nun leget euch aufs Herze,
das grün und weiße Band!
Fort, fort mit Ach und Schmerze,
nehmt das Gewehr zur Hand!
Schon schlägt die Trommel an:
Reiht schnell euch Mann für Mann.
Der Oberst hält Parade,
dann geht’s marsch, marsch voran.
Der Oberst ...Valerie, valera …

2. Durch Friedhardtskirchens Auen,
zieht unser Schützenzug.
Wie sonnig ist’s zu schauen,
tut nimmer sich genug.
Ja selbst alt’ Mütterlein,
will heute fröhlich sein.
Es laden Klang und Lieder
ja all zum Feste ein.
Es laden ...
Valerie, valera...




3. Der Trompete helle Weise
streckt zur Parad’ die Bein,
die Klarinett’ so leise
lädt mich zum Tanze ein.
Die allerliebste Maid
 führ’ ich zum Tanze heut’,
o bleib mit deiner Freude,
du sel’ge Jugendzeit!
o bleib mit ...Valerie, valera ...


4. O Friedhardtskirchens Wonne,
o Tag voll Heimatlust!
Lass immer deine Sonne
hell strahlen in meiner Brust!
D’rum hegt beim frischen Trank
 das Herz zum heißen Dank:
O Heimat, du mir bleibest,
 mein Lust  mein Leben lang
O Heimat, du … Valerie, valera …

Text und Melodie: Gerhard Hoischen

Hellinghausen heißt ein Örtchen ...

 

1. Hellinghausen heißt ein Örtchen,
mitten im Westfalenlande,
Rings umsäumt von grünen Auen,
liegt es an dem Lippestrande.
In dem trauten Friedhardtskirchlein,
dien‚  ich Gott an dem Altare,
und für mich ist es so heimisch,
bin ich dort schon vierzig Jahre.


3. Dort ist mir das liebste Plätzchen, 
wo in meinen kranken Tagen,
in „Maria Hilf“ die Schwestern,
Obdach mir und Hilfe gaben.
Und zur Heimat wiederkehrend,
wende ich den Blick zurücke,
wünschend allen guten Schwestern,
Gottes Segen, Himmelsglücke.

 

 

2. Schön ist noch ein andres Plätzchen,
wo die Berge mächtig ragen,
und versteckt im grünen Laube,
reichlich goldne Trauben tragen.
Wo umsäumt von stolzen Villen,
fließt der Ahre klare Welle,
und den Schwachen, wie den Kranken,
Heilung bringt des Sprudels Quelle.



Pastor Fleige, Neuenahr:  10.  September 1904 Dieses Gedicht von  Pastor Fleige, der sich intensiv mit der Heimatkunde während seiner Amtszeit in Hellinghausen beschäftigt hat, stammt aus aus seinem Nachlass. Pastor Fleige starb im Dezember 1904

 

Der haJoerg Kaiserchelmann aus Overhagen
Vor langer, langer Zeit begab es sich in einem südlichen Zipfel Westfalens, umspült von Lippe und Gieseler, dass kleine Stämme, nennen wir es korrekterweise Dörfer/ Stadtteile, aus Langeweile oder aus niedrigen Beweggründen heraus glaubten, sich gegenseitig bekriegen zu müssen. Niemand kannte den eigentlichen Anlass, der zu diesen nahezu kriegerischen Auseinandersetzungen an finsteren Orten führte. War es vielleicht das Balzverhalten eines liebestollen Mitbürgers in Bezug auf die holde Weiblichkeit des Nachbarstammes, oder war es vielleicht nur der Neid auf irgendwelche Besitztümer des Nachbarn? Die aufgestaute Aggression, auf welchen "wichtigen" Vorfällen auch immer beruhend, entlud sich beispielsweise in Form von handfesten Auseinandersetzungen an lauschigen Plätzen, fernab menschlicher Siedlungen.
Schauplatz dieser Tätlichkeiten war besonders häufig das "Große Holz", bzw. der Weg, auch "Holzpatt" genannt, der durch dieses Waldstück noch heute führt. Besondere Freude bereitete es den Streithähnen, sich zum Schützenfest, was zur damaligen Zeit noch zum höchsten gesellschaftlichen Ereignis des Jahres  gehörte, gegenseitig vor dem Tag des Vogelschießens, den Vogel von der Stange zu stehlen. Dass es bei diesen Handlungen unter starkem Alkoholeinfluss nie zu größeren Unfällen gekommen ist, mag wohl daran liegen, dass der liebe Gott wohl doch ein Schützenbruder ist.
Die entsetzten Gesichter der tapferen Schützenbrüder und angehenden Könige im Angesicht des leeren Kugelfanges am Morgen des Vogelschiessens, kann man sich gut vorstellen. In der Regel wurden diesen Neckereien jedoch friedlich, gegen die Bereitstellung einer bestimmten Menge an "Kaltgetränken" ausgehandelt. Wem dies nicht reichte, lud zu einer zünftigen Prügelei in den Holzpatt ein. Es kam nicht selten vor, dass sich die Schützenbrüder dazu nicht zwei Mal bitten ließen. Die handfesten "Diskussionen" von damals haben sich im Laufe der Jahre zu reinen verbalen Auseinandersetzungen auf ebenso niedrigem Niveau entwickelt. Das so genannte "Frotzeln" zwischen den Schützenbrüdern aus Overhagen und aus Hellinghausen-Herringhausen gehört heute zum guten Ton. Letztendlich gehören wir alle zum Kirchspiel Friedhardtskirchen.
Beim Thema Schützenfestwetter hört jedoch der Spaß auf und als erfahrener Schützenbruder weiß man, mit welchen Liedtexten und  Sprüchen man den den Nachbarverein, bei entsprechend schlechter Witterung zum Schützenfest, in den Wahnsinn treiben kann.    

So heißt es im Rundschreiben Nr. 69 (Weihnachtsbrief) des Ortsvorstehers von Overhagen zum Thema Pflasterung des Schützenplatzes in Overhagen:"...  und die Begehbarkeit wird, selbst bei schlechtem Wetter (was ja eigentlich nie vorkommt, weil die Wolken sich in der Regel bereits (Christi)Himmelfahrt ausregnen) deutlich verbessert."

Da wollen wir doch alle gemeinsam hoffen und beten, dass zur Einweihung des Schützenplatzes Anfang Mai (noch vor Christi Himmelfahrt, dem Schützenfest der Schützenbruderschaft St. Clemens Friedhardtskirchen Herringhausen-Hellinghausen), dem Anlass gebührend, die Sonne scheint.
Aus Sicht der Nachbarortschaften wäre es nach der Prophezeiung wirklich äußerst "schaaaaaaaaaaade", wenn es zu diesem Anlass regnete. Aber vielleicht könnte ja der Wetterprophet und unerfahrene Schützenbruder aus Overhagen schon eine Vorhersage für dieses Datum, besser noch für den  Sommer 2012, abgeben (:-) 
T.Stu

 

Die Legende des hl. Christopherus "neu aufgelegt". (eine wahre Geschichte in etwas veränderter Form)

Was als Legende in Kirchenbücher zu finden ist, wiederholte sich vor wenigen Wochen (Dezember 2010) auch in unserer Region auf dem Weg durch den Holzpatt von Hellinghausen nach Overhagen tatsächlich.
Ein durstiger Wanderer, der sich durch den unglücklichen Umstand der Kneipenschließung in Hellinghausen veranlasst fühlte, einen Gastronomiebetrieb in Overhagen aufsuchen zu müssen, eilte durch den Holzpatt, um auf schnellstem Wege, die Pein seines schier unerträglichen Durstes los zu werden. An einer Senke am Gieselerbach angekommen, musste es jedoch feststellen, dass eben dieser Bach Hochwasser führte und die Fuhrt überspült hatte. Mit großem Bedauern bemerkte er, dass sein Schuhwerk leider nicht den dortigen Gegebenheiten angepasst war.
Im Angesicht der drohenden Katastrophe, nicht die Kneipe aufsuchen zu können, bzw. einen größeren Umweg in Kauf nehmen zu müssen, geriet sein Kreislauf in Wallung. Nervosität machte sich breit. Schweiß durchtriefte Hemd und Jacke und von seiner hohen Stirn, vom schlohweißen Haar nur noch teilweise bedeckt, ergoss sich der kalte Angstschweiß auf seine Kleidung. Sollte er nun als ehemaliger Spitzenfußballer versuchen, mit einem entsprechenden Anlauf einen großen Sprung zu wagen, ähnlich dem eines Kängurus, oder vielleicht doch besser wieder unverrichteter Dinge den Rückweg in das heimatliche Hellinghausen antreten, um auf anderem Wege eben jene Kneipe aufsuchen zu können?
In dieser schier ausweglosen Situation erschien plötzlich, wie aus dem Nichts, ein Mitglied aus dem hiesigen Adelsgeschlecht. Der Wanderer erkannte schnell, dass ihm dieser Mensch mal wieder in vielen Dingen voraus war. So fielen ihm sofort die hohen Stiefel, auch Wathosen genannt, auf, die dieser Mensch in weiser Voraussicht  trug. Eigentlich war es nicht seine Art, Mitmenschen um einen Gefallen zu bitten, aber in dieser ausweglosen Situation blieb ihm keine andere Wahl. So bat der den Adeligen inständig, ihn über den reißenden Fluss zu tragen, um seiner Erlösung schneller nahe zu sein können. Es war immer schon eine Familientradition der Barone und Grafen im hiesigen Raum, für die Untertanen alles zu tun, wonach sie verlangten. So nahm er den Wanderer auf seinen Rücken und wollte ihn über den Strom tragen, wie es der heilige Christopherus vor vielen hundert Jahren schon mit dem Jesuskind tat. Im Unterschied zum Jesuskind war der Wanderer aber schon von Anbeginn an so schwer, dass sein Gewicht dem Adeligen viel abverlangte. Aber der Adelige tat sein Bestes, um seinem Untertan dieses Gefallen tun zu können.  Was beide nicht wussten, war, dass in der Mitte des Stromes, das reißende Wasser ein tiefes Loch in den Weg gespült hatte. 
So geschah, was geschehen musste. Der Adelige trat in jenes Loch, geriet ins Stolpern und beide fielen in das ca. 5 Grad kalte Wasser. Das erfrischende, kühle Nass, das sich der Wanderer erhoffte, hatte ihn nun in anderer Form früher erreicht, als er sich es gewünscht hatte. Während der Adelige beherrscht mit diesem Missgeschick umging und seine Stiefel leerte, drang das Fluchen des Wanderers während seines Rückmarsches nach Hellinghausen weit durch das "Große Holz" und manch Jäger wird sich heute noch fragen, wo das Wild geblieben ist.
Ein Jesuskind hätte sich sicherlich anders verhalten.
(Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind eher zufälliger Art).
T.Stu

 

Geschichten aus Friedhardtskirchen

Der alte Oberst von Friedhardtskirchen  von Gerhard Hoischen

Es ist ein köstlich Ding um den ur- und naturwüchsigen Humor: Sonnenkinder sind es vor Gott und den Menschen, die damit beglückt sind. Es ist, als wenn dieser frisch sprudelnde Born im erzeugenden Herzen zu wenig Platz fände und sich hinausdrängte, um auch andere an der schalkigen Freude teilnehmen zu lassen. Freude bringt der echte Humor; denn weil er aus einem guten Herzen kommt, verletzt er nicht, und weil er einem wahren Herzen entspringt, so heuchelt er nicht.

Mit diesen wenigen einleitenden Gedanken möchte ich das Bild jenes Mannes umrahmen, der als langjähriger Oberst des Friedhardtskirchener Schützenvereins weit über die Grenzen des Kirchspiels bekannt war: Franz Kremer aus Herringhausen. Er vereinigte jene Eigenschaften in sich, die einem jeden Dorfoberst eigen sein müssten, nämlich militärischen Ordnungssinn und Vorliebe für paradische Aufmachung, dazu strategische Veranlagung und eine reichliche Portion echten, guten Humors.
Ein Silberkranz schmückte statt des rotweißen Schützenbandes den Obersthut; denn Kremer hatte schon um die Jahrhundertwende sein silbernes Oberstjubiläum gefeiert. Er trug den Kranz ebenso stolz und selbstbewusst wie den geschenkten silbernen Ehrendegen. Auf seiner Brust blitzten die Militär-Ehrenzeichen, die er als Mitkämpfer von 1866 und 1870/71 trug. In der Schlacht bei Königgrätz hatte eine feindliche Kugel Schloss und Hahn von seiner Knarre weggefegt. Den Oberstrock zierte weniger der rote Kragen, als die echte silberne Offizierstresse mit Epaulette, Silberschärpe und Bandelier. Das alles hatte er von Baron Wilhelm von Schorlemer geerbt, der als Offizier des Garde-Augusta-Regiments der Welt Lebewohl gesagt hatte und ein schlichter Ordensmann geworden war. Die beiden roten Offiziersstreifen längs der beiden Hosenpfeifen vollendeten dann die prunk- und phantasievolle Uniform unseres Oberst.
In den 363 Jahrestagen seines Zivillebens war Meister Kremer der edlen Zunft der Schreiner zugehörig, und dank seiner Tüchtigkeit, Emsigkeit, Rechtschaffenheit und seines heiteren, ja schalkigen Wesens der Haus- und Hofschreiner in jeder Familie des Kirchspiels geworden. Alle hatten ihn gern, die jungen Mädchen nicht am wenigsten. Wie stolz ging er mit der ihm so wohlanstehenden blauen Meisterschürze hinter dem Brautwagen her, auf dem die neuen Möbel blitzten, die seine sorgliche Arbeit geliefert hatte. Ja, er konnte mit Recht stolz sein; denn aus der Hand eines solchen auf Handwerkerstolz und solide Arbeit eingestellten Charakters ging kein Pfuscherprodukt hervor. "Meine Sachen haben nur einen Fehler", meinte er, "sie halten zu lange." Mit derselben Sorgfalt folgte er dem Toten auf des Lebens letztem Gange, wenn er ihm das dunkle Ruhebettchen gezimmert hatte, und seine Sorge ruhte erst, wenn der Sarg wohlgebettet in der feuchten Gruft stand.
Was er war, das wollte er ganz sein, so innerlich und bieder und fromm. Sei es, dass er vor der Einsargung des Toten erst andächtig zum lauten Gebet niederkniete, sei es, dass er zu Weihnachten in der Pfarrkirche die Christbäume aufpflanzte und die Richtung der Kerzen mit dem Lot abmaß, sei es, dass er am Schützensonntag an der Spitze seiner Truppen während der Schützenmesse gläubig sein Knie bog: er war immer ein ganzer Mann. Das war er auch in den zwei Jahrestagen seines "Militärverhältnisses". So selbstverständlich es war, dass zur Zeit seines Zivillebens ihn jung und alt als "Mester Kremer" titulierte, in den beiden Tagen seines Oberstdienstes legte er Wert darauf, als "Herr Oberst" tituliert zu werden.
Einmal bin ich mit ihm in Widerstreit gekommen, und daran war im Grunde die Öberstwürde schuld. Vierzig Jahre und mehr sind es her, da stand im "Patriot" ein launiger Bericht aus Herringhausen, nach welchem ein seifenhändlerischer Schwindler von den Leuten Aufträge entgegengenommen hatte, ohne sie auszuführen. Der letzte Satz lautete etwa so: "Im Zeitraum von einer halben Stunde war das ganze Dorf eingeseift und mit ihm der Oberst von Friedhardtskirchen.
Das war dem Obersten zu viel, zumal es drei Wochen vor Schützenfest war. Mit der vollsten Oberzeugung seiner hohen militärisch-strategischen Bedeutung pflanzte er sich vor mir auf - denn es hatte keinen Zweck, dass ich die Urheberschaft dieses Artikels leugnete - und schrie mich an: "Wissen Sie nicht, dass sich das höchste Kommando niemals einseifen lässt; das gibt's nit!"
Was du bist, das wolle ganz sein. Oberst Kremer war es. Bis etwa zwei Wochen vor Schützenfest war er mit ganzer Seele der pflichtgetreue Vertretet seiner Zunft. Dann aber kam's über ihn wie die Lenzesstimmung beim Hänfling. Zur Parade gehörte eine schneidige Rede: er wusste sie zu halten. Es entsprach so ganz seinem Naturell, dass er die Ereignisse, welche die Laune des Schicksals im verflossenen Jahre dem Kirchspiel geboten hatte, in seine Paraderede einflocht. Wunderlich war es tu sehen, wenn er in diesen zwei Wochen seinen Papierbogen, der geheimnisvoll den Inhalt seiner Rede barg, auf die freie Seite seiner Hobelbank legte und unter dem zischenden Takte des Hobels buchstäblich im Schweiße seines Angesichtes seine Predigt einstudierte.
Die Feststimmung stieg, wenn er in den letzten Tagen vor dem Feste den Vogel zurechtzimmerte, Krone und Zepter einfügte und alles in drei Farben abtönte. Als ich ihn einst bei dieser hehren Festvorbereitung überraschte und die Bemerkung entschlüpfen ließ: "Augenblicklich hat der Friedhardtskirchener Oberst den größten Vogel", fand er die Majestätsbeleidigung so groß, dass er mich gleich zum Freunde Klemens Huneke (Gastwirt) abführte, um mir Arrest und Kriegskosten zu diktieren.
War der Festtag endlich angebrochen, dann kannte man ihn als Mann der dörflichen Menge nicht wieder. Mit einer Haltung, mit einem Anstand und Schneid, um den ihn mancher Offizier hätte beneiden können, schritt er die Front seines Bataillons ab, während sein Auge jeden Schützen maß. Schneidig hielt er sich bei seiner Rede; kein Glied rührte sich, keine Faser im Antlitze zuckte, obgleich ihm der Schalk im Nacken saß.
Einst hatte wenige Tage vor dem Feste ein Sturm den Hahn des Turmes, in dessen Schatten die Kirchenparade stattfand, hinabgewütet. "Schützen", so lautete dieses Mal seine Rede, "bewegende Ereignisse haben sich jüngst in Friedhardtskirchen angesichts des herannahenden Schützenfestes zugetragen. Jahrelang hat es der Hahn auf dem Turm mit Zittern und Zagen wahrgenommen, wenn die Böller krachend unser Fest ankündigten, wenn die dicke Trommel ihm das Herz im Leibe beben machte, wenn er mit dem einen Auge, das er im Kopfe trägt, die vielen Bajonette und Gewehre bei der Parade um die Kirche zu sich aufblitzen sah. Und im Vorgefühl dieser Schrecken hat er in strategisch unwürdiger Weise den Rückzug angetreten und seine hervorragende Stellung aufgegeben. Das hat uns aber nicht hindern können, einen andern, bedeutungsvolleren Vogel auf hoher Stange aufzurichten, der nicht zittern und zagen wird, wenn am morgigen Vormittag die scharfen Kugeln unserer wackeren Schützen seine Heldenbrust durchbohren werden."
Zweiter Tag. - Kirchenparade: "Morgen Leute!" - "Morgen, Herr Oberst!" - "Habt gestern gute Ordnung gehalten und mir Freude gemacht. Darum will ich euch noch einen Tag dabei geben. Also morgen früh acht Uhr Bataillon bei der Gieseler antreten zum Portemonnaieauswaschen." Weites Gelächter - nur der Oberst bleibt ernst.
Fast 35 Jahre hat Oberst Kremer ununterbrochen sein Kommando geführt. Zur Zeit der Demobilisierung nach dem ersten Weltkrieg, im Herbst 1918, kam auch für unseren Heimathelden die Stunde der Lebensdemobilisierung. Eine Lungenentzündung raffte ihn in wenigen Tagen dahin. Als ich in den letzten Stunden seines Lebens an seinem Lager weilte, drückte er mir freundschaftlich mit einer Träne im Auge die Hand. Seine letzten Worte an mich waren: "Machen Sie es ein bisschen feierlich!"
Ja, wir konnten es feierlich machen, ganz im Sinne unseres Oberst. Es lag gerade ein Bataillon der heimkehrenden Krieger in unserem Kirchspiel, und es bedurfte nur einer Vorstellung bei dem Bataillonschef, um mit dem Schützenkorps die ganze Militärkapelle, sämtliche Offiziere und eine Abordnung Krieger für die Teilnahme an der Beerdigungsfeier zu gewinnen. Eine solche prunkvolle Beerdigung hat unsere Heimat selten gesehen.
Als der schlichte Sarg in die dunkle Gruft gesenkt wurde, da knatterten die Gewehre der Krieger, um dem toten Heimathelden den letzten Gruß zu entbieten.

Die Trommel schlägt; 's ist ewig schade,
Er hört's nicht mehr, der alte Held.
Er schläft zur himmlischen Parade
Auf heimatlichem Totenfeld.

In dieser Stunde hat die Heimaterde einen wackeren Mann aufgenommen, - und uns war er mehr.

--- Aus Erwitter Heimatnachrichten Nr. 3 - Januar 1982 - Beilage zum Mitteilungsblatt ---

Der alte Blume    von Gerhard Hoischen

Niemand hat ständig ein so umfangreiches Stück Heimaterde betreten, niemand so oft die breiten und engen, die glatten und holperigen Wege unserer Heimatdörfer und -felder begangen, niemand mit solcher Pflichtund Heimattreue die Gegend des wiesen- und waldreichen Flurenteppichs unseres Kreises durchwandert, niemand so viele Kinder der Heimat gekannt, gegrüßt und erfreut, wie der alte Blume während seiner vierunddreißig jährigen ununterbrochenen Amtstätigkeit als Landbriefträger, er, der Generationen heranwachsen und verschwinden gesehen hat, er, dessen Seele Männern, Weibern und Kindern in den letzten Jahren seines anstrengenden Dienstes ebenso nahe blieb und mit seinem urwüchsigen Humor beglückte, wie er deren Eltern und Großeltern getan.
Die soziale Bedeutung dieses schlichten Volksmannes lag darin, dass er Jahrzehnte hindurch für uns Dörfler geradezu der einzige Verbindungsmann mit der großen Welt war; denn es war zu einer Zeit, da noch kein Draht für telefonische und telegrafische Vermittlungen den Weg zum Dorf fand. Die Straßen, meist nur Landwege, durcheilte kein Fahrrad, durchsauste kein Töff-Töff. Post- und Ansichtskarten waren noch ungekannte Gedankenvermittlungsobjekte, das Briefschreiben war auf dem Dorf noch weniger Bedürfnis als jetzt, zumal es recht umständlich war, weil nur Briefumschläge mit eingedruckten Freimarken im Gebrauch waren, und diese konnte man nur bei Blume für einen Silbergroschen kaufen. Die einzige Hinterlegungsmöglichkeit für Briefe in unserem Kirchspiel war der große Briefkasten an der Mühle zu Overhagen, der nicht selten durch die schulwandernde Jugend mehr mit Steinen beschenkt war als mit Briefen. Blume fluchte wohl ein wenig, wenn er diesen Briefkasten entleerte; aber er grollte der Jugend nicht und beförderte die Steine unfrankiert in den nahen Mühlenbach.
Als Blume am 1. April 1864 in den Dienst als Landbriefträger trat, war Lippstadt das einzige Postamt für die Umgegend. Jeden Morgen rückte er um sieben Uhr mit seiner Tasche aus. Sein vorgeschriebener Weg war: Lippstadt, Cappel, Göttingen, Benninghausen, Alpe, Bahnhof Benninghausen, Üninghausen, Kaldeway, Finken, Herringhausen, Hellinghausen, Overhagen, Stirper Warte, Erwitter Warte, Lippstadt — ein Weg über dreizehn Orte mit der offiziell angegebenen Entfernung von 495 Minuten oder 8¼ Stunden. Als 1870 auf Bahnhof Benninghausen eine Postagentur eingerichtet wurde, änderte sich Blumes Dienstweg. Die Reise ging nun über Mentzelsfelde und Cappel nach Schulte Nomke, wo er über die Lippe setzte, nach Hellinghausen, Overhagen, Weckinghausen, Westernkotten vorbei nach Schwarzenraben, von da über Rixbeck und Dedinghausen nach Lippstadt zurück. Pfarrer Fleige aus Hellinghausen schreibt über Blume aus Anlass seiner Pensionierung im Jahre 1898 im „Patriot": „Die vielen Schritte, die er täglich auf den damals schlechten und einsamen Wegen zu machen hatte, werden sicher, aneinander gereiht, eine stattliche Anzahl von Meilen ergeben. Dabei stets pünktlich und zuverlässig, verlor er nie den Humor, sei es, dass die glühende Mittagssonne ihm die Schweißtropfen auspresste oder Sturm und Regen ihn umtosten oder er durch den tiefen Schnee erst den Weg zu den Dörfern bahnen musste."
In der Zeit also, aus der ich erzähle, kam Blume jeden Morgen zur bestimmten Stunde um die Turmecke in Hellinghausen mit seinem runden, bartlosen Gesicht, das die Sonnenglut gelb gebrannt und die Winterkälte stark gerötet hatte, dieses liebe, alte Gesicht, aus dem die freundlichen, aber schelmisch dreinschauenden Augen hervorlugten. Über seiner Schulter türmten sich an dem dicken, gelben Stocke eine Anzahl Pakete. Im Sonnenlichte blitzte die Reihe Knöpfe an der vorschriftsmäßig geschlossenen postalischen Uniform — denn es war weder gestattet, den Oberkörper zur Zeit der Sommerhitze in die leichtere Litewka zu kleiden, noch auch beim Regenwetter das teure Haupt mit dem Schirme zu schützen; ja, man hätte ihm, ähnlich wie anderen Königlichen Beamten, gewiss noch einen Degen an die Linke gehängt, Wenn sich der starke Knüppel für seine Dienstausrüstung als nicht Unentbehrlich erwiesen hätte.
Bei „Nomken Jüstken" lag um neun Uhr das Frühstücksbutterbrot für Blume fertig. Ein „Schäölken" Kaffee stand ihm auch zu Gebote; er musste es sich nur selbst eingießen. Wenn er sich dann im unbewachten Augenblicke den Kaffee aus Jüstkens kleiner Kanne stahl, statt aus dem großen „Hakenpott", weil ein „Bäuneken" drin war, so zeterte wohl die alte Jungfer. Sie begleitete ihn aber trotzdem an den Strand der Lippe hinunter, um ihn ans jenseitige Ufer zu befördern. Die erste Verbesserung, die die hohe Postbehörde in den Jahren des wirtschaftlichen Aufschwunges uns verkehrsarmen Dorfbewohnern zuteil werden ließ, bestand darin, dass der alte Blume mit einer Trillerpfeife ausgerüstet wurde, damit ihre grelle Stimme zu allen dringe, die im Hause waren. „Ick sinn niu en Rattenfänger wuoren", erklärte Blume. Und wahrlich, wir Jungen gaben ihm öfters gern unser Geleit durchs Dorf, damit wir die Trillerpfeife blasen konnten.
Dieses Posthorn war übrigens für Blume ein überflüssiges Möbel; denn einmal kam er mit uhrenmäßiger Pünktlichkeit, und zum andern sorgten die vielen Dorfhunde mit ihrem lauten Gekläff dafür, dass der getreue Stephansbote gemeldet wurde. Denn so wohlgelitten und willkommen der alte Blume den Leuten war, so nervenerregend wirkte er auf die Hunde durch den gelben Knüppel, der, wenn er nicht zur Beförderung der Pakete auf Blumes rechter Schulter im Dienst war, von seinem taktmäßigen Unterstützungsdienste jäh abweichend, einem dreisten Hunde zum Verhängnis wurde.
Es war bei Trosts Grummetverkauf. Hunderte von Menschen umstanden den Tisch des Rentmeisters Goecke. In fast regelmäßigen Abständen hörte man nach dem letzten Meistgebot des Försters Stimme: „Zum Ersten — Zweiten und — Dritten!" Auffällig wenig wurde plötzlich auf eine Parzelle geboten. Kein Aufgebot!
„Wer hat denn dies geboten?" hörte man die feine Stimme des Rentmeisters, „Bietet denn keiner mehr?"
„Herr Rentmeister! Et geiht muiner Siege wie mi sölwers, dat billigste frett se am laiwesten."
Es war Blumes Stimme. Und Blume bot keiner auf. Mit zunehmendem Alter wich Blume nach der linken Seite hin stark aus dem Lot. Auf der täglich langen Dienstreise werden gewiss der gepackte Holster und die schweren Pakete auf der rechten Schulter den Oberkörper in ein stumpfwinkliges Verhältnis zum Unterkörper genötigt haben. Da aber die Peripherie seines langen Weges für ihn eine linkslaufende Kurve bedeutete, so mag auch das Gesetz der Zentripetalkraft mitgewirkt haben.
Wenige Jahre vor seiner Pensionierung wurde die Postagentur in Overhagen errichtet. Blume hatte nun sämtliche für diesen Agenturbezirk zu befördernden Pakete — auch die über fünf Kilogramm schweren, die sonst gewöhnlich vom Postamt in Lippstadt abgeholt werden mussten, — in einem zweirädrigen Postkarren nach Overhagen zu befördern und Overhagen, Herringhausen und Hellinghausen von der Agentur aus zu bestellen. Mit dieser Dienständerung ging dem Alten ein großes Stück Poesie verloren; denn nun konnte er nicht mehr die alten, liebgewordenen Wege wandern, und es war ihm ein großer Teil des zur Gewohnheit gewordenen Verkehrs mit lieben, alten Bekannten verlorengegangen. Dass auch der alte, auf Paketschlepperei eingestellte, gebeugte Körper sich innerlich gegen den Dienst eines zweibeinigen Postkarrengaules aufbäumte, ist wohl zu verstehen.
Zum 1. Mai 1898 wurde er auf seinen Antrag hin in den Ruhestand versetzt. Ein sonniger, wohlverdienter Lebensabend sollte ihm, dem trotz langjähriger Strapazen noch rüstigen Manne, im Kreise seiner Lieben noch einige Jahre beschieden sein.
Am 1. des Christmonats 1901 war es. Unser alter Freund kam aus seinem Garten am Südertor gegen fünf Uhr abends wieder heim und passierte den Bahnübergang bei Holtermann, dessen Schranken geöffnet standen. Das erste Geleise hatte er eben überschritten, als er aus westlicher Richtung das Tosen eines heranbrausenden Schnellzuges gewahrte. Noch zwei Schritte, und es wäre zur Katastrophe gekommen. Zurückschreckend und zur Seite blickend, hat er die Köpfe zweier Pferde unmittelbar neben sich. Auch diese wollten mit dem Gefährt den Übergang passieren.
Mit einer von dem alten Manne nicht zu erwartenden Entschlossenheit reißt er die Pferde zurück, und schon saust der Schnellzug unmittelbar vor ihren Köpfen vorüber. Leichenbleich verlässt er die verhängnisvolle Stätte, mit zitterndem Körper und schwankenden Knien kommt er nach Hause zurück. Noch in derselben Stunde muss er sich ins Bett legen; der letzte Gang war gemacht. Als man in ihn dringt, das Dienstpersonal der Eisenbahn zur Verantwortung ziehen zu lassen, gibt er zur Antwort: „Davon habe ich nichts, und ich habe in meinem Leben noch niemand unglücklich gemacht." Durch dieses Wort hat er in Wahrheit den Wert seines im treuen Dienste der Menschheit zugebrachten Lebens besiegelt. Er starb im siebzigsten Lebensjahre. Die zahlreiche Beteiligung von Dorfbewohnern bei seinem Begräbnisse wollte der Welt den Beweis der Teilnahme an dem Hinscheiden dieses vortrefflichen Mannes geben.
Wenn ich auf der schwarzen Tafel des Grabes an der nordöstlichen Ecke des alten Friedhofteiles Lippstadts die Worte lese:

Postbote Wilhelm Blume
geb. 29. Okt. 1832
gest. 6. Dez. 1901

So möchte ich Theodor Fontanes Worte hinzumeißeln:  „Der ist in tiefster Seele treu, der die Heimat so liebt wie du."

                                                                                                                                                                                                                        Gerhard Hoischen